Wenn ich je einen Angeltag brauchte, dann in den kommenden Tagen. Die letzten Wochen waren hektisch, gar deprimierend wenn ich an das gesamte Weltgeschehen denke. Monatelang habe ich als Lektor über einem Manuskript gebrütet, habe auf die bevorstehende Veröffentlichung hingearbeitet. Jetzt, inmitten der Tragödie nahe unserer Heimat, soll ich mich freuen über das nächste Buch im Forelle & Äsche Verlag: Der Forellensammler von Tom Jacob. Die Freude ist etwas gedämpft. Die Beschäftigung mit dem Buch riss mich aber auch weg von den grausamen Bildern der rolling-news, ließ mich die unfassbare Vorstellung abschütteln, wie schnell Träume und Hoffnungen von einem Tag auf den anderen zunichte gemacht werden können. Es war mein Tonikum.
Wenigen wird der Autor bekannt sein. Dass er ausgerechnet in meinem Verlag ein Zuhause findet, macht mich zutiefst glücklich. Selten habe ich ein derart unterhaltsames Buch über das Fliegenfischen gelesen. Auf englisch würde man es als page-turner bezeichnen. Den Autor möchte ich gerne vorstellen. Da mir aber angesichts seines fesselnden Schreibstils sprichwörtlich die Worte fehlen, überlasse ich das Porträt am besten ihm selbst.
Resümee eines Fliegenfischers oder:
Durch piscatorische Sozialisierung zum aufrechten Gang
Von Tom Jacob
Kennen Sie die Bildfolge der evolutionären Entwicklung des aufrechten Gangs vom Primaten zum Homo sapiens? Die Silhouette eines kauernden Affen links im Bild entwickelt sich sukzessive zum aufrecht gehenden Menschen auf der rechten Seite des Bildes. Es sind fünf oder sechs weitere Entwicklungsstufen dazwischen zu sehen, eine jede etwas aufrechter, als die davor.
Wie würde denn, grafisch gleichermaßen dargestellt, die Evolution bei einem Fliegenfischer aussehen? Von der ersten schwarzgeangelten Forelle bis zum … Ja zu was eigentlich? Wer entscheidet denn, was wahre Meisterschaft im Fliegenfischen bedeutet? ‒ für manche steht am Ende der Entwicklung vielleicht „Anglerkönig“. Oder „Meisterwerfer“; für andere „Weltreisende“, „Gerätefetischisten“ oder, ganz am Ende gar „Angekommene“?
Ein jeder wird sich da irgendwo wiederfinden können, die meisten wahrscheinlich mit ein wenig von allem.
Nachfolgend möchte ich Ihnen von meiner eigenen Sozialisierung zum Fliegenfischer erzählen. Sie begann in der Grundschule des nicht strafmündigen Wilderers, ging über in die Mittelstufe des lernenden und des reisenden und schreibenden Fliegenfischers bis zum Abitur (vermeintlicher) persönlicher Meisterschaft – in welcher Disziplin auch immer. Und auch bei mir mit ein wenig von allem.
Meine allererste Forelle war deutlich zu groß, um sie an einem Stück in die Pfanne zu bekommen. Kein Witz! Ausgerechnet das ist im Grundschulalter tatsächlich meine erste piscatorische Sozialisation gewesen.
An einem langweiligen Tag in den Sommerferien hatte meine Mutter schlicht genug von mir und meinem Bruder gehabt und uns kurzerhand zum (Schwarz)Fischen geschickt. So war sie uns für ein paar Stunden los, denn wir mussten erst die Haken aus in der Kerzenflamme umgebogenen Sicherheitsnadeln selber machen. Der Rest – eine grüne Spinnrute aus Vollglas mit einer alten DAM Rolle, die schon deutlich bessere Tage gesehen hatte, bestückt mit einem ebenfalls grünfarbigen Nylon- „Strick“ der Stärke 0,35 mm – war im Haushalt unserer Ferienhütte vorhanden. Unterwegs zum Bach gabelten wir noch einen Spielkameraden auf – und los ging es.
Die dunklen Silhouetten der Fische unter der Brücke am Rand eines Dorfes auf der Schwäbischen Alb (Kalkstein!) zogen relativ unbeeindruckt ihre Bahnen; sie waren Leute auf der Brücke gewohnt. Und was tun Leute auf Brücken ganz allgemein, wenn sie im Wasser darunter große dunkle Fischschatten sehen? Sie werfen Brot ins Wasser; und die Forellen steigen irgendwann auch danach ‒ ebenfalls eine Art Evolution. Wir wussten natürlich nicht, dass es sich um die berüchtigten „Brückenforellen“ (Fario truta ponsis J.) handelte, als wir unseren Köder auf den Haken zogen. Das war übrigens das Einzige, was am Ende unserer Schnur hing – eine umgebogene Sicherheitsnadel, bestückt mit einem Stückchen Brotrinde.
In meiner Erinnerung wurde es dann ziemlich schnell hektisch, denn die Forellen fackelten nicht lange und im Handumdrehen zog es mächtig an der Schnur. Nach wenigen Umdrehungen stieg dann auch noch die Rolle aus, weil die Spule, wahrscheinlich Urlaubs-Mittelmeerwasser-korrosionsbedingt, auf der Achse des Gehäuses fraß. Der Fisch war trotzdem unser, wobei ich keine Erinnerung mehr daran habe, wie es uns überhaupt gelang, ihn zu landen.
Das nächste Bild in meinem Kopf ist das meiner Mutter, beziehungsweise ihres komplett erstaunten Blickes aus dem Fenster unserer Hütte, als das fischwildernde Triumvirat den steilen Berg hochkam, fröhlich eine große Forelle an der Schnur schwingend ‒ der Haken war sofort nach dem Biss irgendwo auf Nimmerwiedersehen tief in der Mitte des Fisches verschwunden. Das Fenster aufgemacht hatte sie nur deswegen, weil wir mit lautem Geschrei bereits von Ferne nach einer großen Pfanne verlangten – was ihr angesichts der Nachbarn natürlich peinlich war. Wobei sie nicht im Traum damit gerechnet hatte, dass wir überhaupt irgendeinen Fisch erwischen sollten; ganz geschweige von einer deutlich über 50 Zentimeter langen Bachforelle!
Auf jeden Fall schnitt sie meine Mutter kurzerhand in der Mitte durch, um sie in die Pfanne zu bekommen. Und es ist mir bis heute unvergessen, wie sich die viel zu frischen Teile durch die Hitze beim Braten nach oben bogen wie ein „U“.
Die Forellen dieses Baches begleiteten mich fortan über die nächsten Jahre immer mal wieder, doch als Angler selbst „angebissen“ habe ich damals noch nicht.
Erst als ich während meiner Bundeswehrzeit 1990 auf einem Schottlandurlaub aus irgendeinem Grund im Tal des Spey landete, hat es mich dann erwischt. Das Campen an der Westküste hatten wir rasch wetterbedingt aufgeben und uns nach Morayshire verzogen. Im Osten war es deutlich weniger regnerisch und das Land war viel lieblicher mit seinem großen grünen Tal und den sanft rollenden, heidekrautbewachsen Hügeln. Außerdem gab es eine Menge Whisky-Destillerien an diesem schönen Fluß, in dem immer wieder irgendwelche Figuren vereinzelt bis zum Bauch im Wasser standen. Fast alle mit Hut ‒ manche sogar mit Krawatte, habe ich mir sagen lassen! In ihren Händen schwangen sie lange Angelruten, was für mich aussah, als ob sie Buchstaben in die Wolken ritzten. Schönschrift am Himmel.
Am Ende der Ruten waren lange dicke Schnüre, mit denen sie offensichtlich fischten; irgendwie. Eigentlich hatte ich den Eindruck, als peitschten sie das Wasser 25 Meter vor sich. Armes Wasser …
Aber das Ganze hatte etwas! Etwas Faszinierendes, etwas, das ein einzigartiges Gefühl in mir weckte, welches mich seither nie wieder verlassen hat. Es besteht aus all dem, all den Dingen, großen wie kleinen, die das Fliegenfischen am Ende ausmachen. Für jeden Einzelnen mit einer etwas anderen Ausprägung. Aber die meisten von Ihnen wissen wahrscheinlich sowieso ganz genau, wovon ich rede.
Subsummiert: Ich war „drauf“ ‒ zweifellos! Und zwar allerspätestens, seit ich dann in einem dieser wunderbaren und mittlerweile nahezu ausgestorbenen alten anglo-schottischen Tackle Stores zwischen Tausenden kleinen bunten Angelködern, die „Fliegen“ genannt wurden, stand. Fliegen ‒ okay, interessant … Da ich eine ausgeprägte Schwäche für bunte Dinge im Allgemeinen habe, wollte ich mir daraufhin eine oder zwei (!) als Andenken mit nach Hause nehmen. Gekauft habe ich, soweit ich mich erinnere, wohl ein paar mehr, ohne zu wissen, dass ich sie später tatsächlich verwenden würde.
Ein Umzug ins Münsterland kurz vor diesem Schottlandurlaub brachte für mich verschiedene Erkenntnisse mit sich. a) Schützenfeste machten mir Angst, b) den Weißwurst-Äquator gab es wirklich c) kein Mensch verstand mich.
Und so führte mich einer meiner nächsten Wege in ein Angelfachgeschäft in Münster. Dessen Besitzer erklärte mir, dass es zum Fischen in Deutschland einen Angelschein brauchte. Und dass in wenigen Monaten die nächste Anglerprüfung vor dem Kreisamt anberaumt war. Ich kaufte mir bei ihm zwei Bücher zur Vorbereitung, ein Lehrbuch und ein Buch mit den Prüfungsfragen. Wenn ich dann „bescheid wüsste“, solle ich wieder vorbeikommen.
Um meine Fliegenausrüstung zu kaufen. Was für ein verlockender Gedanke, der mir gleichsam auf der Zunge zerging. Meine eigene A u s r ü s t u n g. Eine Fliegenweste! Dann wusste gleich jeder bescheid, dass ein Fliegenfischer kommt; wie geil!
Bedingt durch meine rosarote Angelbrille, die nur die Wellenlängen durchließen, die exklusiv mit Fliegenfischen zu tun hatten, interessierte mich der Rest eigentlich überhaupt nicht mehr. Was ja prinzipiell okay ist, es soll ja jeder nach seiner Façon glücklich werden, ob er nun mit einer (realen) halben Leber fischt, oder (dem Betrug) einer um einen Haken gewickelten Feder. Niemand ist besser oder schlechter. Im Prinzip jedenfalls.
Doch ich hatte noch eine mündliche Prüfung abzuliefern, bei der man aus einem Stapel Ruten, einem Haufen Rollen und einer Kiste mit einer Million Kleinteilen, von denen ich die meisten nicht kannte, eine passende Ausrüstung zusammenstellen musste ‒ zum Stippfischen auf Rotaugen; oder zum schweren Blinkern auf Hecht. Zum Schleppfischen. Oder Grundangeln. Einzig beidhändiges Netzfischen, wie es in Indonesien seinerzeit noch regelmäßig betrieben wurde, war nicht gefordert.
Über das Fliegenfischen hatte ich einen ganz guten Plan. Ich konnte schon damals eine Trockenfliege von einer Nassfliege unterscheiden (letztere geht unter). Und das war mein Glück, denn ich zog in der Prüfung tatsächlich meine Wunschkarte: Stellen Sie eine Ausrüstung zum Fliegenfischen auf Forellen zusammen!
BINGO!
Da ich bis heute noch nicht wirklich weiß, wie man eine Karpfenrute oder eine Grundrute zum Fischen auf Zander montiert, hatte ich wohl wirklich Glück gehabt. Eins zu sieben, um genau zu sein ‒ es waren insgesamt acht Karten gewesen.
Zurück im Angelladen in Münster erstand ich meine allererste Fliegenrute (Berkley, 8.5 ft, #6), eine graue englische Kunststoffrolle, eine Schnur und etwas Kleinkram. Und als Service nahm mich der Inhaber dann vier Mal für je eine halbe Stunde zum Werfen üben mit ans Wasser. Es war hart und Eichhörnchen ernähren sich bekanntermaßen mühsam, doch jetzt war ich ein echter Fliegenfischer!
Und meine Fliegenweste füllte sich schnell ‒ mit allerlei, meist sinnlosem Schnick-Schnack.
Außer dem Tieflandbach (voller erschreckend großer Döbel und nicht viel weiter mehr als einem schwimmenden Maulwurf) neben meinem Wohnort fischte ich einmal an einem Fluss im Sauerland, der voller Äschen war. Dort schenkte mir ein älterer Sportskamerad drei schöne Dinge: zwei frische Äschen (ich hatte keine gefangen) und den Hinweis auf das Buch Erlebtes Fliegenfischen von Charles Ritz. Es ist seither so etwas wie ein Katechismus für mich und bis heute immer wieder ein frischer Quell. Durch Ritz entwickelte ich mein großes Interesse am Werfen. Allerdings war er nicht der einzig „Schuldige“.
Zurück in der badischen Heimat wurde ich einige Monate später Mitglied im lokalen „Angelsportverein“. Bei einem Wochenende unserer Anglerjugend im oberen Donautal traf ich den wahrscheinlich besten Werfer, dem ich jemals begegnet bin. Wir waren uns spontan symphatisch und er lud mich ein, wiederzukommen, um gemeinsam an einem anderen Abschnitt auf Bachforellen zu fischen. Und bei den vielen Malen, die wir dann die nächsten Jahre zusammen fischten, lernte ich das Werfen noch einmal – und zwar richtig.
Mein Freund aus Tuttlingen drehte mich komplett um, vom Handgelenk- zum Zeigefingerwerfer. Außerdem durfte – ja sollte! – ich plötzlich den Ellenbogen von Körper abklappen und beim Wurf mitbewegen! In dieser Zeit habe ich dann auch den Doppelzug auf die Reihe bekommen, inspiriert von Ritz‘ Illustrationen, die zu den Besten gehören, um diesen Wurf darzustellen; und von besagtem Freund, der an meinem Wurfstil feilte, bis ich Blasen an der Wurfhand hatte; trotz des dicken Korkgriffs der M3. Ich war einem Jünger Gebetsroithers in die Hände gefallen und mein schöner, mühsam erarbeiteter, englischer Wurfstil (mit einem Stock im „Mh-mh-mh“!) war dahin.
Auf Kosten meiner Wurfweite, die sich in Kürze vervielfacht hatte.
Um es ganz klar zu sagen: ohne diese Begegnung an der oberen Donau mit meinem späteren guten Freund wäre ich als einzelner Tropfen irgendwo im Ozean der werferischen Mittelmäßigkeit verschwunden. Es war die wahrscheinlich wichtigste Lektion auf meinem bisherigen Weg: Gute Technik öffnet Türen. Und sie ist deswegen so wertvoll, weil sie völlig unabhängig vom Grad des persönlichen Wohlstandes ist. Eine gute Rute kann man kaufen, eine gute Technik muss man sich erarbeiten. Und Talent macht dabei nur den geringsten Teil aus, es ist wirklich der Fleiß, der am Ende zählt.
Im selben Jahr begann mein piscatorischer Wandertrieb und ich fuhr das erste Mal nach Schottland, um zu fischen ‒ auf Lachs!
Mittlerweile besaß ich also eine RST M3 mit achteinhalb Fuß Länge in der Schnurklasse fünf und eine etwas bessere, jedoch für den Zweck hoffnungslos zu kleine Rolle aus einer freundlich glänzenden Magnesiumlegierung. Ich kaufte mir dennoch eine Karte für den Deveron und fing an zu fischen. Ohne Geld für die die richtige Ausrüstung, ohne Plan, ohne Erfolg. Meinen ersten Lachs sollte ich erst acht Jahre und 10.000 Würfe später landen; am Spey.
Doch ich war am Wasser restlos glücklich.
Und das war meine nächste piscatorische Sozialisierung: Ich merkte, dass ich mich am fließenden Wasser glücklich fühlte.
Bis heute brauche ich nicht viel mehr.
So pilgerte ich die gesamten 1990er-Jahre an den Spey. Meist im zeitigen Frühjahr, wenn ich mir die Wochenkarte leisten konnte. Dafür regnete es in dieser Zeit meist von Nordwest ‒ waagerecht. Aber irgendwann hatte ich die richtigen Leute getroffen ‒ ein Tackle Shop-Besitzer aus Rothes war nicht ganz unbeteiligt gewesen ‒, ich lernte die richtige Technik und hatte eines Tages das richtige Material: Eine uralte dreiteilige Clan Stewart aus braun gefärbter Kohlefaser, 15 Fuß mit langsamer Aktion für die vollsinkende DT 10. Schussköpfe waren in diesem Teil der Welt damals noch mehr oder weniger unbekannt.
Geblinkert habe ich dort selbst bei Hochwasser nie, da ich meinen ersten Lachs auf Biegen und Brechen an einer von mir selbst gebundenen Fliege fangen wollte. Was mir später, wie gesagt, auch gelang.
Ich blinkere bis heute nicht auf Lachs, niemals.
Einige Jahre später nahm ich mein Forststudium im Schwäbischen auf und begann, Wurfkurse zu geben, was für das Student‘le ein nettes Zubrot war. Ich schrieb und zeichnete ein Skript für meine Wurfkurse, wobei ich auf Ritz‘ Arbeit aufbaute, da ich mittlerweile einen sehr ähnlichen, von ihm und Gebetsroither beeinflussten, Wurfstil entwickelt hatte. Und wenn ich keine Kurse gab, musste ich entweder lernen, schlief oder – fischte selbst. Sinnvollerweise nahm ich mir genau in dem knapp 500-Seelen zählenden Ort eine Bude, an dem unser Schulwasser lag; 1,2 Kilometer Neckaroberlauf, voller Forellen. Meine Privatstrecke quasi. Und praktisch unbefischt.
YESSSS!
Meinem Studium tat das gar nicht gut und so flog ich tatsächlich durch fast alle Prüfungen des Grundstudiums. Aber ich feilte fleißig an meinem Wurf.
Meinen berufsbedingten Ausflug in die Jagd möchte ich hier nur am Rande erwähnen, obwohl er für meine Entwicklung als Angler nicht unwichtig war. Er dauerte sechs Jahre und ungefähr 180 Rehe lang. Ich mochte die Jagd nie wirklich, beschäftigte mich aber intensiv mit der unabdingbaren Konsequenz, auf der sie beruht. Konsequent zu Ende gedacht heißt jagen nichts weniger, als den uralten archaischen Beutetrieb zu befriedigen, der schon in uns schlummerte, als wir uns noch ganz links auf der eingangs erwähnten Darstellung der Evolution wähnten. Das hat mein Bewusstsein als Angler grundlegend verändert.
Wir hatten damals an der Forsthochschule die Möglichkeit, zwei Auslandssemester zu machen, sofern man es clever anstellte. Im Sekretariat gab es eine Liste mit Studienorten, die zwar alle irgendwie ziemlich exotisch (Forstschule Joensuu, Finnland), teils sogar regelrecht abenteuerlich klangen (Nationalpark Hainich, Deutsche Demokratische Republik).
Nur zum Fischen war für mich nichts dabei.
Mist!
Zwei Jahre vor meinem Studienbeginn lief der Film „Aus der Mitte entspringt ein Fluß“ (A River Runs Through It), welcher in seiner Gesamtheit meine dritte piscatorische Sozialisierung war. Plötzlich war für mich das Fliegenfischen nicht mehr ausschließlich anglo-schottisch, sondern auch nordamerikanisch! Der Hauptdarsteller aus Robert Redfords Familiensaga, der Fluß Big Blackfoot, liegt in Montana und dort organisierte ich mir selbst einen Platz für ein Praxissemester.
Es war eine Zäsur in meinem Leben. Nicht nur, dass meine Frau zeitweise ernsthaft daran zweifelte, ob ich überhaupt wieder nach Hause kommen würde. Seither gibt es in meinen Erinnerungen wie beim Navigieren eine sogenannte „Auffangline“. Beim Segelfliegen ist es meist eine Autobahn oder ein Fluß woran man sich orientieren kann, wenn man sich verflogen hat. In meinen Kopf gibt es seither ein „Vor“ und ein „Nach Montana“.
Am Rande sei noch erwähnt, dass Norman MacLean nicht nur A River Runs Through, sondern noch zwei weitere Bücher veröffentlich hat. Beide spielen beim US Forest Service und ich arbeitete im Nachbardistrikt von jenem in The Ranger, the Cook and a Hole in the Sky beschriebenen, in dem MacLean fast 100 Jahre vorher selbst tätig war.
Nach den drei Monaten fuhr ich wider Erwarten dennoch zurück nach Hause zu meiner Frau.
Mein zweites Auslandssemester (dieses war ein Studien- und kein Praxissemester ‒ das war der Trick!) führte mich nach Schottland. Auch diesen Kontakt habe ich seinerzeit erstmals eingefädelt und es gibt seither einen regen Austausch zwischen den Forsthochschulen in Rottenburg und in Inverness. In diesem Frühsommer fing ich im Spey endlich auch meinen ersten Lachs ‒ Just a bar of silver. Er war natürlich meine nächste piscatorische Sozialisierung, denn der erste Lachs ist so unbeschreiblich wie der Kater am Tag danach.
Während meines Studiums arbeitete ich im Sommer manchmal für ein paar Wochen in der Tabakernte und regelmäßig stundenweise im Lager eines Buchverlages. Im Büro des dortigen Lagerchefs traf mich eines nachmittags fast der Blitz, als mich der Mitarbeiter eines bekannten Verlages anrief und mich fragte, ob ich für eben diesen ein Angelbuch schreiben wollte.
Ich weiß nicht wovon Sie träumen, doch stellen Sie sich vor, jemand ruft Sie aus heiterem Himmel an und fragt, wohin Ihre Million geliefert werden soll, oder ob Sie vielleicht mit Penelope Cruz zu Abend essen möchten; Candlelight Dinner, mit Spesenersatz, natürlich.
Ich war so vollumfänglich geplättet in dem Moment, dass ich den Herrn am anderen Ende der Leitung kurzerhand bat, ob er die Frage vielleicht noch einmal wiederholen könnte; zu schön war ihr süßer Inhalt, um ihn im Äther eines Lagerbüros verhallen zu hören …
Das war einer der tollsten Momente in meinem Leben.
Und so entstanden noch während meines Studiums meine ersten beiden Bücher über das Fischen. Heute sind sie mir, zumindest ansatzweise, ein bisschen peinlich, denn Motivation ist kein Garant für Qualität. Aber ich hatte es geschafft und sie verkauften sich auch ganz ordentlich. Das Eine wurde sogar als Lizenz in China veröffentlicht. Ich habe noch immer drei Exemplare davon in meinem Regal stehen und muss jedes Mal, wenn ich sie sehe, kurz lächeln. Vorher hatte ich schon den einen oder anderen Artikel veröffentlicht, aber ein Buch? – das war natürlich etwas anderes!
Das Schicksal wollte es übrigens, dass ich ein paar Jahre später selbst einen kleinen Regionalverlag eröffnete – und ihn sieben Jahre später wieder schloss. Nebenher schrieb ich für verschiedene Lokalzeitungen, gab Fliegenfischerkurse und – fischte.
Und reiste und fischte.
Aus Schottland hatte ich aus Neugier eine alte gespließte Fliegenrute mitgebracht, die viel zu lang war, um sie wirklich sinnvoll nutzen zu können – außer zum Stillwasserfischen vielleicht. Aber immer mal wieder packte es mich und ich nahm sie mit zum Fischen – mit durchwachsenem Erfolg. Bis ich irgendwann meine erste „richtige“ Gespließte zum Geschenk erhielt: eine Pezon & Michel – das Modell verrate ich Ihnen nicht, aber sie ist sauschnell! Und plötzlich schien ich da zu sein, wo ich hingehörte – werferisch zumindest, denn genau das wurde in dieser Zeit zu meinem Fliegenfischer-Mikrokosmos: Das Werfen von schnellen kurzen Ruten aus gespließtem Bambus.
Diese Ruten verzeihen, vor allen beim Doppelzug, keine großen Wurffehler. Doch beherrscht man sie und steigt dann hin und wieder einmal auf eine Kohlefaserrute um, dann ist das wie der Umstieg von meinem Schweizer Ordonanzrad auf eine Vespa; oder eine Ducati – je nach Modell. Aber die modernen Gerten habe ich regelmäßig immer schnell wieder sattgehabt und so war ich irgendwann komplett auf Bambus und Seide umgestiegen.
Damals wähnte ich mich am Ziel meiner Quest.
Ich mag alte Dinge generell und liebe es, alte Dinge wieder herzurichten, sie schön zu machen und sie zu benutzen. Alte Fahrräder, altes Werkzeug, altes Angelzeug. Alte Rollen, gespließte Ruten!
So importierte ich über ebay-usa alte gespließte Ruten des seinerzeit unteren Preissegments in gutem Zustand, restaurierte sie und gab sie weiter. Einen Teil fische ich selbst heute noch und eine meiner Ruten tauschte ich vor ein paar Jahren gegen einen Tag Guiding in Madeira ein. Der Guide ist ein heute guter Freund.
Ebenfalls begann ich damit, alte bis uralte Seidenschnüre zu restaurieren. Der erste Blick, wenn man eine auspackte, bei ebay-usa geschossen und Porto und Importsteuer bezahlt hatte, war immer spannend. Es gab eigentlich nur zwei Optionen: verwendbar oder Ausschuss ‒ klebrig oder trocken, zugfest oder morsch. Wie gesagt, spannend!
Das war auch die Zeit, in der der „Ritz“ zu meinem Katechismus wurde, denn in ihm fand ich alle Informationen die ich brauchte, um mit einer gespließten Fliegenrute anständig werfen zu lernen. Und ich restaurierte, tauschte, kaufte, erbte (!) viele schöne Bambusruten. Sie reisten regelmäßig mit mir und ich fischte sie Weiß-Gott-Wo.
Bis ich eines Tages in der Normandie einigen Herrn vom International Fario Club über den Weg gefischt habe.
Oder bin?
Der Fario Club wurde Ende der 1950er-Jahre von Charles Ritz in Paris gegründet und in den 1990ern von einem jungen Herrn aus der Nähe von Paris wiederbelebt. Heute wie damals bietet der Club vielen interessanten Persönlichkeiten der internationalen Oberschicht eine piscatorische Heimstatt. Für mich war es der Beginn einer wunderbaren Zeit voller interessanter und hochgebildeter Leute und besonderen Reisen mit einer anständigen Prise Dekadenz. An jenem Wochenende fischten wir erstmals zwei Tage zusammen, einen in der Normandie, einen im Jura. Sie waren bescheidene Werfer, die Herrn, alle, außer einem, dem Präsidenten. Von ihm erhielt ich zum Abschied eine Einladung zum alljährlich stattfindenden Wurfwettbewerb im Herbst in Paris. Dort, im Boi den Boulogne zu Paris, gewann ich das Distanzwerfen mit gespließten Ruten. Mein Preis war eine Hohlglas-Rute, die Ritz persönlich gebaut hatte, es war das Geschenk einer seiner Weggefährten.
Zufällig war mein Geburtstag.
Und ein weiterer der glücklichsten Tage meines Lebens.
Kurz darauf wurde ich selbst Mitglied im International Fario Club und das Reisen ging weiter.
Und vor allem weiter weg.
Über die Jahre hatte ich mich konsequent gegen die Erdrotation von Europa über Nordamerika nach Westen durchgefischt ‒ von einigen Tagen im Schwäbischen einmal abgesehen. Dann kam das erste Mal Japan – die zweite Zäsur in meinem Leben: eine Hälfte vor Hokkaido, eine andere nach Hokkaido. Japan war überwältigend für mich, ein einziger bizarrer, vom Jet-Lag vernebelter surrealer Traum. In ihm träumte ich von Lachsen; vom Sakura masu, dem Kirschlachs. In seiner nicht meerwandernden Form, dem Yamame, begegnete ich das erste Mal diesem schönsten Salmoniden überhaupt.
Meine Reisen gingen weiter, bis ich rund eine Dekade später ein zweites Mal nach Japan kam. Wieder nach Hokkaido, wieder zum Fischen, natürlich. Und nach über zwanzig Jahren, die ich mit gespließtem Bambus und Seidenschnüren in vollen Zügen genossen hatte, lief mir Tenkara über den Weg.
Unvermittelt.
Endstation; ich habe die die Spitze der piscatorischen Pyramide erreicht, die aufrechte Figur ganz rechts im Bild. Und wie vor über dreißig Jahren, als mich das Fliegenfischen komplett absorbiert hatte, ergeht es mir seither mit Tenkara.
Es ist die totale und perfekte Reduktion einer großartigen Idee, eines unfassbar eleganten Konzeptes, das des Fliegenwurfes auf Distanz. Es reduziert sich auf das Fischen vor den eigenen Füssen mit einem Fokus wie durch ein gigantisches Brennglas ‒ plötzlich ergibt jede kleine Strömung hinter jedem kleinen Kiesel einen Sinn. Und das Minimum, was man an Ausrüstung braucht, findet in einer Hosentasche Platz. Fast alle der aus Kohlefaser hochmodulierten Tenkara-Ruten wiegen bei einer Länge von über dreieinhalb Metern deutlich unter 90 Gramm, ein paar noch wesentlich weniger.
Man wirft etwas tatsächlich nahezu Gewichtsloses – die Fliege – mit etwas gefühlt nahezu Gewichtslosem – der Tenkara-Rute.
Die Würfe sind sehr kurz und erreichen, systembedingt, maximal die doppelte Länge der Rute. Der Wurf ist genauso reduziert, wie das ganze System. Es gibt nichts mehr, worauf man verzichten könnte, ohne dass er nicht mehr funktioniert.
Perfektion bedeutet deswegen nicht, dass man noch etwas hinzufügen könnte, um es besser zu machen; wahre Perfektion ‒ das Göttliche quasi ‒ bedeutet, dass man nichts mehr wegnehmen kann.
Gilt das nicht für einiges mehr im Leben?
Auf jeden Fall macht es den Wurf, so einfach er auf den ersten Blick scheint, selbst – oder gerade? – für den erfahrenen Fliegenwerfer zu einer echten Herausforderung. Auch deswegen, weil man auf die kurze Distanz eine atemberaubende Präzision hinbekommt. Man kann buchstäblich zentimetergenau werfen. Aber genau das erfordert Übung und Geduld, mit einem Wort: Erfahrung.
Und so fische ich, nach über 20 Jahren Oldie-Fishin‘ jetzt mit absoluten High-Tech-Ruten der Oberklasse. Und trotzdem fange ich (fast) noch einmal ganz von vorne an – und fange genauso wenig, wie damals an der westlichen Fliegenrute.
Meine Erlebnisse und Erinnerungen aus dreißig Jahren mit der Fliegenrute rund um die Welt erscheinen als Buch unter den Titel „Der Forellensammler“ im Forelle & Äsche Verlag. Auf den kam ich, als ich das Manuskript mit Geschichten meiner Reisen veröffentlichen wollte. Wie die Harry Potter-Geschichten wurde es mehrfach abgelehnt und stieß schlussendlich beim Verleger Tankred Rinder auf offene Augen und Ohren.
Es wird Anfang Mai 2022 erscheinen.
Und wie bei Harry Potter hoffe ich als Autor natürlich, dass wir Mitte nächsten Jahres die 17. oder 18. Auflage nachdrucken müssen.
Zugegeben: nur, wenn es gut läuft.
Lege ich meine Bucket-List zugrunde, also die Liste der Dinge, die ich noch erledigen sollte oder erleben möchte, bevor ich tatsächlich den „Bucket“ (dem Eimer) kicke, also abtreten muss, dann sieht mein Resümee nicht schlecht aus:
Einen Lachs habe ich mittlerweile gefangen, und ein Buch veröffentlicht auch. Das waren lange Zeit meine beiden größten Wünsche. Dann Reiseschriftsteller oder Angelguide zu werden. Das Erste hat ja gewissermaßen geklappt, zumindest ein bisschen, am Zweiten arbeite ich noch; mal sehen.
Und um ins All zu fliegen bin ich mittlerweile leider zu alt.
Dann bliebe eigentlich nur noch … das Nordlicht. Bevor ich das Zeitliche segne, möchte ich wenigstens einmal ein Nordlicht, die Aurora borealis sehen, mit eigenen Augen.
Und noch einmal zurück nach Schottland.
Und den perfekten Tenkara-Wurf meistern.
Aber auch dafür bin ich mittlerweile leider zu alt …
Der Forellensammler von Tom Jacob ist ab sofort im Shop von Forelle & Äsche Verlag erhältlich.
Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dieses Buch ist eine Sensation.
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D. Jacob says
Durch die Brille der Vergangenheit sieht vieles besser aus.
… Jedenfalls war Tom Jacob´s erste Forelle geklaut in der Lauchert in Veringenstadt. Ich war dabei.
ich bin vergessen, verstoßen, war zu billig.
Tankred Rinder says
Mmhh… das ist ein sehr persönlicher Kommentar. Anhand dessen ich die private Nähe zum Autor erahnen kann, und der, wie mir scheint, nach beiderseitiger Aufarbeitung ruft. Ich werde Tom Jacob bitten, für eine Aussprache mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Frohe Weihnachten, Grüße Tankred
Lars says
Hi Tankred,
für mich bitte auch ein Exemplar reservieren…
Tight Lines und Gruß
Lars
Tankred Rinder says
Gerne doch Lars – ein Exemplar ist für dich reserviert. Danke!
TL und LG Tankred
Oliver S. says
Hallo Tankred,
Bitte für mich ebenfalls zwei Exemplare zurücklegen.
Schönen Gruß
Oliver
Tankred Rinder says
Hallo Oliver,
freue mich sehr über Deine Vorbestellung – 2 Stück sind reserviert. Danke! Heute gaben wir beim Drucker den Buchsatz frei.
Bis demnächst und viele Grüße, Tankred
Tom Jacob says
Liebe FliFi-Gemeinde,
jetzt fehlen wirklich nur noch ein paar Bestellungen mehr und wir müssen nachdrucken …
:-)
Ich kann Euch allen nicht sagen, wie sehr ich mich über Eure Reaktionen freue.
Schöne Grüße,
Tom Jacob
Angermeier says
Da würde ich mich anschließen und auch gerne eins vormerken lassen.
TL und viele Grüße
Tobias
Tankred Rinder says
Sehr gerne Tobias – ein Exemplar ist reserviert.
TL und viele Grüße, Tankred
Saskia Groos says
Ooohh,
das bestelle ich sofort. 2x! Herrlich. Saskia
Tankred Rinder says
…das freut mich Saskia. 2 Bücher sind reserviert. Grüße ins Oberbayrische! LG Tankred
Rainer Sprung says
Hallo Tankred,
möchte auch unbedingt eins!
Viele Grüße
Rainer
Tankred Rinder says
Sehr, sehr gerne Rainer. Dein Exemplar ist reserviert. Viele Grüße, Tankred
Peter Gebhardt says
Ich möchte auch eins.
L.G. Peter
Tankred Rinder says
Sehr gerne Peter, wird reserviert. LG Tankred
Norman Katzenstein says
Hallo,
Ich möchte eins ;-).
Tl
Norman
Tankred Rinder says
Hallo Norman, das erste Exemplar ist für dich reserviert. Vielen Dank! LG Tankred