Vermutlich hat jeder von uns schon die ein oder andere, mehr oder weniger gravierende Regelübertretung begangen auf der Suche nach einem erfüllten Angeltag. Vom Mißachten des Watverbots wenn man wirklich mal ans andere Ufer musste, bis über den Wurf über die Reviergrenze hinaus, wenn die verlockende Rinne sich einige Meter darüber hinaus erstreckt. Meine Erfahrung zeigt, dass das moralische Barometer meist der bessere Gradmesser zur Verhinderung grober Übertretungen ist, als all die Gebote dieser Welt. Lies weiter, wie Tom Jacob eines Tages seinen Kopf gerade noch aus der Schlinge zog.
Der Kraftsche Baumklassenmesser – Tom Jacob
Die erste Tenkara-Rute, die ich mir gekauft habe, stammte von einer amerikanischen Firma, deren Ruten zum Teil knallbunt gestaltet sind; türkisblau, rostrot oder, in meinem Fall, zweifarbig gestreift. Die Rute sieht auf den ersten Blick aus, wie eine drei Meter lange, breit gelb-grüne gestreifte Messlatte mit Korkgriff. Nach 30 Jahren Fliegenfischen, in denen ich meist dunkle und praktisch ausschließlich einfarbige Ruten verwendet habe, gibt es nur zwei Möglichkeiten als Reaktion auf diese Knallbonbons: Man liebt sie oder man hasst sie. Ich liebe sie. Sie sind echt funky!
Wir drei – die Rute, mein Hund und ich – sind schnurstracks zum Fischen gegangen, kaum hatte ich sie ausgepackt. Und zwar an eine Stelle bei uns im dichten Rheinwald, an der sich regelmäßig der eine oder andere dicke Döbel rumtreibt. Es ist ein großer Gumpen, der sich nach einer Rieselstrecke gebildet hat, tief ausgehöhlt wo der Bach eine 90-Grad Kurve macht. Die Stelle ist eigentlich perfekt, wenn ich dort nur fischen dürfte. Der Gumpen gehört zu einem Gewässersystem, in dem streng genommen nur mit dem Netz und nicht mit der Angel gefischt werden darf, aufgrund alter Rechte der örtlichen Fischerzunft.
Aber Erlaubnis hin oder her, wir sind trotzdem dorthin. Zum einen war der Wunsch einfach übermächtig, weil es dort so schön ist und ruhig, zum anderen war die Chance, beim Schwarzfischen erwischt zu werden, relativ überschaubar, weil ich einer der ganz Wenigen bin, die dort mitten im Wald überhaupt etwas zu suchen haben. Ich bin nämlich einer der Förster, die dort arbeiten.
Der Gumpen ist umsäumt von Weiden und überschattet von großen, alten Pappeln. Diese werden langsam „hiebsreif“, was bedeutet, dass sie in absehbarer Zeit geerntet – also gefällt – werden müssen, weil sie sonst schlicht zu groß für die Weiterverarbeitung werden. Oder man lässt sie einfach stehen. Selbst, wenn sie in ein paar Dekaden zusammenbrechen, eine unmittelbare Gefahr stellen sie für niemanden dar, denn sie stehen mitten in der „grünen Hölle“ des Rheinwaldes.
Ich vergnügte mich im Schatten der Pappeln also eine Weile mit meinem neuen Spielzeug, wir fingen zusammen tatsächlich einen schönen, großen Döbel (und ließen ihn wieder laufen). Glücklich über diese schöne Stunde im „oberrheinischen Dschungel“ zottelte ich mit meiner neuen Gerte in der Hand zurück zum Auto, das ich ein paar Hundert Meter abseits abgestellt hatte. Und in genau dem Moment, als ich aus dem dichten Waldbestand kam, um auf dem Waldweg zurück zu laufen, stand ich plötzlich vor dem örtlichen Jagdaufseher. Ich hatte ihn schlicht nicht bemerkt, als ich durch die Hecken auf den Weg stoplerte.
Normalerweise ist das ja auch überhaupt kein Problem, schließlich bin ich dort oft unterwegs, um Baumbestände anzuweisen oder geschlagenes Holz aufzunehmen. Aber bei der Arbeit habe ich normalerweise keine Angelrute in der Hand. Und so entwickelte sich eine interessante Konversation.
„Ah, sieh da, der Herr Oberförschter!“
„Salü Hubert; Unterförster, bitte.“ Ehre, wem Ehre gebürt. „Was läuft bei dir im Revier?“
„Ich lueg nach den Sauen. Un‘ was machsch du?“
Jetzt wurde es interessant, denn seine Aufmerksamkeit galt allein dem Gegenstand in meiner Hand, den er offensichtlich nicht zweifelsfrei einordnen konnte. Ich war froh, dass ich meine Rute zusammengeschoben hatte, bevor ich mich auf den Rückweg gemacht hatte.
„Ich mess‘ die übriggebliebenen Pappeln. Die sind langsam zeitig.“
„Ja un‘ was misch‘ da?“
„Na das Volumen. Für die Holzernte-Planung muss ich wissen, wie viele Festmeter von welchem Sortiment (also Stammholz, Brennholz, etc.) am Ende am Weg liegen.“ Eine für einen Laien nicht völlig unplausible Erklärung, oder? Auf jeden Fall war ich erst mal vom Haken.
„Und mit dem Ding misch‘ des?“
„Ja klar. Das ist ein Kraft’scher Baumklassen-Messer.“ Jetzt, wo er den Köder geschluckt hatte, ritt mich der Teufel und ich begann, einige der abwechselnd-farbigen Segmente aufzuziehen. Mit ausgestrecktem Arm peilte ich eine große Pappel an.
„Du stellst dich so hin, dass, wenn man bei ausgestrecktem Arm über den Maßstab peilst, der Griff mit dem Wurzelansatz deckungsgleich ist und die Spitze mit der Spitze des Baumes. Strahlensatz.“ Ich machte dabei ein ernstes Gesicht.
„Ah, so…“
„Und wenn man nun die Höhe der einzelnen Abschnitte von Stamm, Dürrastbereich und grüner Krone mit der Anzahl der richtigen Markierungen auf dem Baumklassen-Messer multipliziert, und rechnerisch um eine baumartenbedingte Konstante bereinigt (weil der Stamm kein Zylinder, sondern streng genommen ein Kegelstumpf ist), bekommt man im Handumdrehen das Ergebnis in Festmetern.“
„Ah, ja…“
Schweigen, Kopfnicken.
Könnten Hunde lachen, dann hätte sich mein Hund gekringelt. Und selbst ich musste mich zusammennehmen, um nicht loszuprusten.
Zufrieden zogen alle Beteiligten ihrer Wege.
Der Vollständigkeit halber: es gibt sie tatsächlich, die Kraft’schen Baumklassen. Sie sind Teil eines theoretischen Waldbau-Modells, das die Dominanz der einzelnen Bäume in einem Wald und ihre Relation zueinander beschreibt. Aber das nur am Rande.
Frechheit siegt und eine gute Lüge liegt immer so nahe wie möglich bei der Wahrheit, um standzuhalten. Glück gehabt.
Zurück im Auto konnte ich mir das Lachen dann doch nicht verkneifen.
Tom Jacob fischt seit 30 Jahren mit der Fliege. Er gibt Fliegenfischerkurse, fotografiert und schreibt über das Fischen, bindet Fliegen, restauriert altes und baut neues Angelgerät. Seine erste Fliegenfischer-Ehe war mit gespließtem Bambus und Seide; sie hielt 20 Jahre. Seit 2019 ist er frisch verliebt in das Tenkara-Fischen, eine Verlobung steht aus.
Der Forellensammler – Flussgeschichten eines Fliegenfischers von Tom Jacob
ist ab sofort im Shop von Forelle & Äsche Verlag erhältlich.
Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dieses Buch ist eine Sensation.
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volker says
Was für eine schöne Geschichte, jeder der leidenschaftlicher Angler ist hat mal die Grenzen ausgelotet aber nicht mit Gewalt überschritten, tolle Story!
Tankred Rinder says
…wahre Worte Volker! Den innerlichen Jagdinstinkt muss man nicht zur Gänze unterdrücken, Gier und Profilierungssucht schon. VG Tankred Rinder